Portraet
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Rose

Leseprobe Raubtiere:
Der Platz in der Rangfolge

Hier das 7. Kapitel Der Platz in der Rangfolge aus meinem Roman Raubtiere. Wer nicht online lesen möchte, kann es auch als pdf herunterladen.


Manche Dinge verblassen schnell in der Erinnerung. Sie werden zu einem abstrakten Wissen, zu einer Tatsache, die nicht mehr Brisanz hat als ein paar Buchstaben in einem dicken Bibliotheksband, den niemand mehr ansieht. Irgendwo ist es vorhanden, aber seine Unmittelbarkeit ist verloren.

Die Unmittelbarkeit des Schmerzes, den ein Sambo-Armhebel auslöst, wurde mir gerade jetzt wieder brutal bewusst gemacht. Ich schrie.

Vater Zolki nahm sich nicht zurück. Mehrere Sekunden lang drehte er meine verrenkte Hand immer noch ein Stückchen weiter, während er mich mit seinem Fuß auf meinem Schulterblatt am Boden hielt. »Du hast nicht trainiert«, konstatierte er, als er mich losließ.

»Ich ... nein«, stammelte ich und richtete mich in die Hocke auf. Mit dem Daumen massierte ich meine malträtierte Achsel.

Den Tritt des Priesters sah ich erst im letzten Moment kommen. Gerade noch gelang es mir, ihn mit einem Unterarm zu blockieren. Seine Wucht warf mich nach hinten.

Ich stöhnte, aber christliches Mitleid war etwas, das Vater Zolki stets gemeinsam mit seiner Priesterrobe in der Umkleidekabine ablegte. »Es wäre angebracht, wenn du etwas schneller aufstehen würdest. Die Verteidigungshaltungen, die für den Bodenkampf angemessen sind, beherrschst du noch schlechter als die, mit denen du im Stehen überleben könntest, wenn du dir in den letzten sieben Jahren mehr Mühe gegeben hättest.«

Er sagte das, während er mir den Rücken zudrehte und barfuß durch die Halle spazierte, in einem weiten Kreis, der ihn unweigerlich zu mir zurückführen würde. Es war sicher besser für mich, wenn ich auf den Beinen war, wenn er wieder vor mir stand. Also riss ich mich zusammen.

»Du hast eine Menge Gift in dir, nicht wahr, Victor?«

Einen Augenblick dachte ich darüber nach, ob es der für orthodoxe Priester typische, schwarze Bart war, der seiner Erscheinung so viel Autorität verlieh, dass ich sie trotz unseres geringen Altersunterschiedes bedenkenlos anerkannte. Ich wischte diese Überlegung schnell beiseite. Das Äußerliche spielte eine lächerlich geringe Rolle angesichts seiner offensichtlichen Überlegenheit auf spirituellem, körperlichem und geistigem Gebiet.

»Ich habe nicht nur Soda getrunken«, entgegnete ich. »Aber ich habe mir auch nichts von dem Pulver in die Nase gezogen, das mein Vater so schätzt.«

»Mir scheint allerdings, dass du eine Menge Gift im Kopf hast, wie die Schlange, welche die Menschen im Paradies verdarb.«

»Wie meint ...«

Meine Reaktion war schnell genug, um mich unter seinem weit ausgeholten Schlag abzuducken. Aber während sich mein Oberkörper beugte, kam mir Zolkis andere Faust von unten entgegen. Dumpf schlug sie gegen meinen Schädel. Ich taumelte zur Seite.

»Wirklich bedauerlich. Die mit dieser Finte eingeleitete Kombination hast du vor zwölf Jahren einmal beherrscht. Damals hättest du nicht so unbedacht reagiert.«

Keuchend hielt ich mir die getroffene Stelle. Das war keine gute Idee. Der Priester hatte für Selbstmitleid noch nie Verständnis gehabt, noch nicht einmal in der Beichte. Er deckte mich mit einer Serie von Tritten ein. Verzweifelt erkannte ich, dass er nur halbherzig angriff. Dennoch war ich mit meinen kümmerlichen Abwehrversuchen am Rande meiner Möglichkeiten!

Vater Zolki jagte mich vor sich her. Seine Schläge und Tritte prasselten gegen meine verzweifelt erhobene Deckung, bis wir die Halle mehrfach durchmessen hatten, ich beständig zurückweichend, er mir dicht folgend, keine Pause gönnend. Dann hatte er scheinbar ein Einsehen und ließ mir etwas Ruhe, um meinen pfeifenden Atem zu beruhigen.

Keiner seiner Tritte hatte sein Ziel gefunden, aber meine Unterarme würden am nächsten Tag ein einziger blauer Fleck sein. Auch an seinen Schienbeinen konnten die harten Blocktechniken nicht ohne Spuren geblieben sein, aber er ließ es sich nicht anmerken. Früher hatte ich einmal gesehen, wie er zur Abhärtung gegen Baumstämme schlug. Er behauptete, dass der Knochen dadurch eine Substanz ausschwitze, die ihn hart und schmerzunempfindlich mache. Ob das zutraf oder nicht – er konnte jedenfalls eine Menge wegstecken.

Er stand mit dem Rücken zu mir und hatte die Hände in die Seite gestützt. In dem Kampfanzug aus weißer Baumwolle sah er so gar nicht wie ein Priester aus. Aber er benahm sich ja auch nicht wie einer.

Er rollte den Kopf im Nacken hin und her und fragte: »Du bist jetzt also im Gastronomiebereich tätig?«

»Ich habe eine Heavy-Metal-Kneipe.«

»Und du denkst, das ist es, worauf es im Leben eines Menschen ankommt?«

»Warum nicht? Es macht mir Spaß.«

Das war wohl nicht die Antwort, die er hatte hören wollen. Nur ein kurzes Wippen seines Oberkörpers kündigte es an, als er einen weiten Satz nach hinten, auf mich zu, machte und sein rechtes Bein mit Gewalt rückwärts durchstreckte. Ungeschickt machte ich einen Ausweichversuch, aber die Ferse traf mich in den Bauch.

Das wirklich Frustrierende daran war nicht, dass ich auch diesen Tritt vor zehn Jahren noch spielend mit einem Anspannen meiner Muskulatur abgefangen hätte, statt mich beinahe übergeben zu müssen. Was mir zu schaffen machte, war das Wissen, dass Zolki ebenso gut ein paar Zentimeter höher hätte treten können. In diesem Fall hätte er meinen Solarplexus getroffen, was unter Umständen tödlich hätte enden können. Er spielte mit mir, das war klar.

Es war ein hartes Spiel. Zwar vermied ich es, mir den sich krampfenden Bauch zu halten, aber in meiner unvollkommenen Bereitschaftshaltung brachte ich es nicht fertig, gerade zu stehen.

»Ich sehe deinen Schmerz«, fuhr der Priester fort. »Er rührt daher, dass du deinen Platz im Leben nicht ausreichend bestimmt hast.«

»Gut, dass Ihr das sagt, Vater. Ich hätte ihn im ersten Moment auf Euren Fuß zurückgeführt.«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Du hast einen fehlgeleiteten Sinn für Humor, welcher der Erforschung deines wahren Wesens im Wege steht. Zudem gibst du äußeren Umständen ein unangemessen starkes Gewicht. Im Gegensatz zu deiner inneren Leere wird dein äußerlicher Schmerz von selbst vergehen. Ich habe noch keines deiner Organe ernsthaft beschädigt.«

Was mir an diesem letzten Satz besonders missfiel, war das ›noch‹.

Zolki streckte die Hände auf Höhe seiner Schultern nach vorn. »Du solltest die Initiative ergreifen.«

Ich stöhnte innerlich. Das musste ja schief gehen! Aber er wollte einen Angriff von mir, und es war wohl besser, seiner Erwartung zu entsprechen.

Mit meinen nackten Füßen tastete ich mich zentimeterweise auf dem Hallenboden vor. Ich stand einigermaßen stabil, soweit ich das beurteilen konnte. Zolki hatte auf der linken Seite eine Lücke in der Deckung, was aber ganz sicher ein Trick war. Er wollte, dass ich ihn dort angreifen sollte, und hatte sich schon die perfekte Reaktion darauf zurechtgelegt.

So einfach nicht! Ich trat in einem weiten Halbkreis gegen seinen Oberschenkel, schlug beim Aufsetzen des Fußes mit meinem rechten Unterarm seine Hand aus dem Weg und setzte noch aus der Bewegung nach, als er zurückwich. Ich wirbelte um meine Achse, um ihm mit maximalem Schwung meinen linken Ellbogen gegen die Schläfe zu schmettern.

Aber er war nicht mehr da. Sein Arm tauchte an meiner rechten Seite auf und schoss an meiner Brust vorbei nach oben. Er griff mit solcher Wucht nach meiner Kehle, dass meine Füße vom Boden gerissen wurden. Noch im Flug wurde ich herumgedreht und krachte mit der Brust zuerst auf den Boden. Ein spitzes Knie stach in mein Rückgrat. Mein verdrehter Arm wurde schmerzhaft nach oben gedrückt. Ich schrie.

»Du bist von deinen Trieben regiert, nicht überlegender handelnd als ein Tier. Dabei habe ich dir doch immer gepredigt: Wenn du deine Triebe nicht beherrschst, beherrschen sie dich. Es ist bedauerlich, dass du diese einfache Lektion noch immer nicht verinnerlicht hast.

Du bereitest mir großen Kummer, Victor. Kannst du mir wenigstens sagen, was das Wichtigste für einen Menschen ist?«

Schmerz! Dieser Schmerz! Ich glaubte, die Muskeln und Sehnen in meiner Schulter reißen zu hören. Was war nur die richtige Antwort, die die Quälereien dieses Inquisitors beenden würde? Was wollte er von mir hören? Er drehte den Arm. Ich konnte förmlich sehen, wie mein Oberarmknochen der Länge nach Risse bekam und das Mark herausgepresst wurde wie das Wasser aus einem Handtuch, das gewrungen wird. »Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!«, rief ich.

»Ich rate dir, dir mehr Mühe beim Nachdenken zu geben. Vermutlich klammerst du dich zu sehr an das Bisschen Pein, das doch so unbedeutend ist. Willst du es nicht loslassen, um dich auf das Wesentliche zu konzentrieren? Wenn du deine Fähigkeiten als Mensch nur ein wenig ausgebildet hättest, verfügtest du über ein Mindestmaß an freiem Willen. Dieses würde dir gestatten, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um in Selbstmitleid zu verfallen.«

Rote und schwarze Flächen tanzten vor meinen Augen. Zwischen den rasenden Schlägen meines Herzens erkannte ich, dass ich in wenigen Augenblicken das Bewusstsein verlieren würde. Und wenn das geschah, würde es um meinen Arm geschehen sein!

Ich schlug mit der Stirn auf den Boden, um den Kopf frei zu bekommen. Mehr Funken vor meinen Augen! Mehr Schmerz!

Gut! Ich würde stärker sein als der Schmerz, als aller Schmerz, den es geben konnte! Ich musste es sein! Und zwar jetzt!

Noch einmal schlug ich auf den Boden. Und noch einmal. Und noch einmal.

Sehen konnte ich schon lange nichts mehr, und Zolkis Stimme hörte ich auch nur noch durch ein betäubendes Rauschen hindurch.

»Die Familie!«, sagte ich mit einer Ruhe, die mich selbst überraschte. »Das Wichtigste ist die Familie!«

Wie eine gespannte Feder, die plötzlich losgelassen wird, schlug mein Arm auf den Boden. Er war gefühllos, aber wenigstens war die Qual fort.

Als mein Blick sich klärte, sah ich zuerst das Blut an der Stelle, wo meine Stirn wiederholt aufgeschlagen war, und dann Zolki, der vor mir aufragte. »Wie lange willst du noch liegen bleiben? Du musst noch die Halle saubermachen.«

»Dann ist der Unterricht beendet?«

Er nickte. »Du bist nicht mehr aufnahmefähig.

Außerdem möchte ich gar nicht wissen, was für erschreckende Abgründe du mir noch offenbaren wirst, nachdem du nun – anscheinend mit Überzeugung – behauptet hast, die Familie sei das Wesentliche im Leben eines Menschen, ohne dass du danach handelst.«

»Aber ...«

Seine zum Segen erhobene Hand befahl Schweigen. »Genug. Deine mangelnde Konsequenz ist erbärmlich. Dennoch«, er seufzte, »bist du ein Kind des allbarmherzigen Gottes. Friede mit dir!«

Er schlug das Kreuzzeichen.


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