Portraet
Namenszug

Leseprobe Bei Regen und bei Sonnenschein:
Begegnungen

Tiger klein

Hier das Kapitel Begegnungen aus meinen Reiseerinnerungen Bei Regen und bei Sonnenschein. Im Buch ist eine leicht überarbeitete Version enthalten. Wer nicht online lesen möchte, kann es auch als pdf herunterladen.



Da ich allein reiste, lernte ich eine Menge Leute kennen. Schon wenn man zu zweit ist, beschäftigt man sich den Großteil der Zeit miteinander, zudem wirkt ein Paar für neugierige Einheimische eher abschreckend, sodass sie von sich aus häufiger den Kontakt zu einzelnen Fremden suchen werden.

Franzine und Jackie beispielsweise hätte ich vermutlich nicht kennen gelernt, wenn ich nicht allein unterwegs gewesen wäre. Sie »entführten« mich vor einem Club in Manhattan, den wir zufällig zur gleichen Zeit verließen. Ich orientierte mich gerade auf der Straße, als ich hinter mir ein Wolfsgeheul hörte. Nach dessen Ursprung suchend, fand ich schnell eine beleibte und eine gertenschlanke Dame. Nachdem der Blickkontakt hergestellt war, kamen wir schnell über die Schönheit des Mondes ins Gespräch, und ehe ich mich versah, saß ich in einem Taxi auf dem Weg zu einem Diner, also einem dieser merkwürdigen Lokale, die man immer in Filmen sah, wo auf jedem Tisch eine Ketchupflasche stand. Eine Art großflächige Pommesbude mit Kellner. Jackie kam aus Texas, arbeitete jetzt aber in New York bei einem Musikverlag, der auch in Deutschland einen kleinen Zweig hatte. Deswegen lernte sie gerade Deutsch, Französisch und Spanisch sprach sie schon fließend. Franzine konnte mir eine Menge über Indien erzählen, das ich später auf meiner Weltreise besuchen würde. Sie war dreimal sechs Monate lang dort gewesen, das letzte Mal mit der Absicht, für immer in Indien zu bleiben. Ihrer Familie zuliebe war sie zurückgekommen, sie hatte italienische Wurzeln, deswegen sei ihre Mutter ihr besonders wichtig, erklärte sie. In Indien war sie zur Tantra-Lehrerin ausgebildet worden, jetzt arbeitete sie als Grundschulpädagogin. Das war typisch für amerikanische Karrieren, stellte ich im Verlauf meiner Reise fest, diese breite Spanne an Tätigkeiten, die man im Laufe seines Berufslebens ausführte. Mit 16 eine Ausbildung machen, dann in diesem Beruf arbeiten, bis man in den Ruhestand geht, am besten auch noch für ein und denselben Arbeitgeber – das war in den USA ein fremdes Konzept.

Auch die Frau, die mich in Lancaster nach dem Gottesdienst ansprach und zu einer Heißen Schokolade bei Starbuck's einlud, hatte ein bewegtes Leben. Beispielsweise war sie ein paar Jahre mit der Airforce in Deutschland gewesen. Als Kaplan hatte sie gearbeitet und ein Menschenleben damit gerettet, darauf war sie stolz. Man hatte sie gerufen, einer der Soldaten hatte sich erschießen wollen. Er hatte mit der Pistole herumgefuchtelt, als sie gekommen war, und gefragt, ob sie ihm auch nur einen einzigen Grund nennen könne, warum er sich jetzt keine Kugel durch den Kopf jagen solle. »Weil dann dein Blut meinen schönen Pullover voll spritzt und ich das nie wieder sauber kriege«, hatte sie geantwortet, ihr war nichts Besseres eingefallen. Es hatte seinen Zweck erfüllt, der Soldat hatte zu weinen begonnen, sie hatte ihm die Waffe entwinden können.

Deutschland hatte ihr gefallen, auch, wenn dort alles so teuer sei. Sie sei ein paar Mal mit leeren Taschen nach Amerika geflogen, um sie dort mit Kleidung zu füllen und dann mit zurück zu nehmen. Bei den Preisunterschieden habe sich das wirklich gelohnt, meinte sie.

Die Amerikaner waren bis zu einem gewissen Punkt sehr offen, wenn sie mit einem ins Gespräch kamen. So erfuhr ich auch von ihrer gescheiterten Ehe. Ihr Mann hatte die Karriere über die Familie stellen wollen, sie war enttäuscht gewesen, war jetzt geschieden. Das Haus hatte sie behalten, konnte es aber wohl nicht weiter finanzieren. Sie hatte sich verkalkuliert: Dass der Sohn zum Vater gehen würde, hatte sie erwartet, aber auch die Tochter, das war ein Schlag, auch finanziell, denn der vom Vater gezahlte Unterhalt hätte auch das Haus mit abbezahlen müssen. Jetzt musste es verkauft werden, oder sie musste einen Untermieter mit hinein nehmen. Oder einen besseren Job finden. Auch davon hatte sie diverse gehabt, einmal hatte sie gekündigt, weil ihr Chef dubiose Praktiken in der Buchhaltung angewandt hatte.

Es hätte mich interessiert, wie sie als Katholikin damit zurecht kam, eine Scheidung vorangetrieben zu haben, aber die Frage schien mir zu persönlich. In der Gemeinde war das Problem wohl eher, dass sie nun wieder »auf dem freien Markt« war. Die Ehefrauen seien skeptisch, erzählte sie mit einem bitteren Lächeln, man fürchte, sie könne den Männern schöne Augen machen. Oft würde sie ihre Nachbarn zum Kaffee einladen. »Vielleicht später«, das war die immer gleiche Antwort, und »später«, das bedeutete »nie«. Aber sie würde das hinkriegen, das Finanzielle und auch sonst alles, da war sie optimistisch, wie alle Amerikaner.

Dieses »ich schaffe es« hatte auch eine Jugendherbergswirtin auf Big Island, Hawaii, als Motto über ihr Leben geschrieben. Gebürtig war sie aus Südkorea, hatte eine harte Zeit durchgemacht, viel gejobbt im Osten der USA. Sie hatte es weit gebracht, wenn man ihre Besitzungen betrachtete: die Jugendherberge, das dazugehörige Gelände, eine Menge Kanus, die sie vermietete, eine zweite Jugendherberge in einem anderen Ort. Trotzdem würde ich ihr Leben nicht als gelungen bezeichnen. Mit ihren beiden Kindern hatte sie sich entzweit. Die studierten ihr nicht fleißig genug, sagte sie, hielten das Geld nicht zusammen, führten ein Lotterleben. Sie hatte sie seit ein paar Jahren nicht gesprochen. Sie hoffte, dass ihre Kinder sie anrufen würden, irgendwann, denn sie hatte ja eine kostenlose Rufnummer, für die Reservierungen in ihren Jugendherbergen. Die Kinder selbst anzurufen, dazu war sie zu stolz, aber die hätten doch wissen müssen, dass sie sich jederzeit melden konnten. »Hoffe ich«, fügte sie hinzu, und selten hatte ich so traurige Augen gesehen wie die dieser Frau.

In Singapur, wo ich mich noch nicht einmal 24 Stunden aufhielt, machte ich gleich drei interessante Bekanntschaften. Die erste erwartete mich beim Einchecken in der Jugendherberge. In den USA hatte mich Dan Browns »The da Vinci Code« (auf Deutsch unter dem Titel »Sakrileg« erschienen) als Hörbuch auf den Highways begleitet. Ich hatte die Schilderung des wahnsinnigen Mörders, eines sehnigen Albinos mit langem, schütterem Haar, noch gut vor Augen, und da stand er vor mir. Ein Albino war er nicht, aber so eine Art Negativzeichnung davon, mit seiner beinahe schwarzen Haut, die nicht recht zu den asiatischen Zügen passen wollte. Seine Stimme stieg wie ein Grollen aus einer Erdspalte hervor, den Kopf bewegte er ruckartig, wie ein Wolf, der plötzlich Witterung aufnahm. Seine dürren Finger geleiteten mich den Weg zu meinem Bett, er benahm sich äußerst korrekt, wie Dracula, dachte ich.

Eine junge Tschechin schlief in einem der drei Stockbetten dieses Zimmers. Sie unternahm gerade einen Ausflug nach Singapur, eigentlich lebte sie in Malaysia. Dort arbeitete sie als Regisseurin für Fernsehfilme und Werbespots. Ich schätzte sie auf 23. Sie empfahl mir, nicht nur Thailand zu besuchen. Auch die anderen Länder in dieser Weltgegend seien sehr schön. Ich hatte schon von Angkor Wat gehört, in Kambodscha, aber ich hatte keine Erfahrung mit kommunistischen Regimes. »Ach«, meinte sie, »das ist kein Kommunismus, nicht so, wie das früher bei uns gewesen ist. Ich meine, natürlich, die Leute haben ständig Angst, das sieht man, wenn man ihnen in die Gesichter schaut, in Laos, in Kambodscha, auch in Vietnam. Aber lange nicht so schlimm wie bei uns damals.«

Am Morgen traf ich David, er hatte einen deutschen Akzent, das verwunderte nicht, der Euro stand hoch, viele Deutsche waren in der Welt unterwegs. Aber David war nicht nur aus Deutschland, er war aus Köln, und nicht nur aus Köln, sondern aus Köln-Sülz, meinem Stadtviertel. Zu Hause wohnten wir etwa 400 Meter auseinander, stellten wir verwundert fest, auch wenn wir uns dort noch nie gesehen hatten. David wollte sich Südostasien ansehen, zuvor war er ein paar Monate in Australien gewesen.

In Australien hatte ich auch ein junges Paar aus Deutschland getroffen. Sie war gerade mit der Schule fertig, er war Zimmermanns-Geselle. Man komme sehr gut klar in Australien, meinten sie, deutsche Handwerker hätten einen exzellenten Ruf auf den Baustellen und bei der Ernte könne man auch immer helfen. Wenn man die Hälfte der Zeit arbeite, könne man die andere Hälfte reisen, sich die Nationalparks anschauen. Ein Jahr seien sie schon hier, sie überlegten, ob Südostasien nicht auch eine Reise wert sei. Nur nach Deutschland zurück, das wollten sie am liebsten nie wieder.

Anders als die beiden Mädels, mit denen ich von Honduras nach Guatemala reiste, von der Taucherinsel Utíla in die Dschungelstadt Tikal. Sie hatten es allmählich satt, die ständige Unsicherheit bei der Planung, weil Fahrpläne eher der Verzierung der Wand dienten, an der sie hingen, als irgendeinem anderen Zweck, die überfüllten Busse, den ständigen Versuch, Geld aus den Touristen zu schlagen, den mangelnden Komfort der Unterkünfte. Wir entwickelten einen tiefschwarzen, zynischen Humor während der vier Tage, die wir zusammen unterwegs waren, dadurch hatten wir eine Menge Spaß. Das war sicher auch eine gute Strategie, um das Reisen zu genießen: bei den Sachen, die man nicht ändern konnte und die man einfach hinnehmen musste, immer das Gute suchen und wenn sich das auch mit bestem Willen mal nicht finden ließ zumindest das Erheiternde. Selbstironie gehörte ins Reisegepäck, keine Frage.

»Deutsche und Fliegen, die trifft man überall«, meinte Alexander zu mir, ein Schweizer, den ich in St. Louis traf. Wir hatten eine gute Zeit in der Jugendherberge, die mit wenigstens zwölf Katzen ausgestattet war. Außer uns hatte hier noch ein Brite Quartier genommen. Er war bei der Labour Party in Großbritannien und von dieser sozusagen »ausgeliehen« an die Demokraten, um Wahlkampf für Jim Kerry zu machen. Es schien üblich zu sein, dass sich die Wahlkampfteams in den beiden Ländern unterstützten. Man übte in den USA und hatte dann ein paar Tricks mehr auf Lager, wenn man daheim für Tony Blairs Wiederwahl stritt. Mir kam der Gedanke vollkommen abstrus vor. Ich wäre misstrauisch gewesen, hätte mir ein Franzose erzählen wollen, wie ich bei der Bundestagswahl stimmen solle. Mit Alexander jedenfalls ging ich in eine Kneipe, in der Nachwuchs-Rockbands spielten. »Gar nicht schlecht für diese Schulbuben«, kommentierte der Schweizer. Da wir zu Fuß gingen, studierten wir interessiert die rot schraffierten Flächen auf dem Stadtplan des Herbergsvaters, die »gefährliche Gebiete« kennzeichneten. Wir durchquerten eine davon, die nur vier Blocks umfasste. »Die Schurken hier scheinen ja eng umgrenzte Territorien zu bedienen«, diagnostizierte ich. »Tja, das sind halt Quartiergangster«, stellte er fest. Das wurde sofort ein fester Bestandteil meines Vokabulars, Quartiergangster. Und mit den Deutschen und den Fliegen, da hatte er ebenfalls Recht.

Beispielsweise traf ich in einem Museum in Guatemala-Stadt eine dreiköpfige Reisegruppe. Einer der Männer trug den gleichen Rucksack wie ich. Klarer Fall, wir hatten ihn auf die gleiche Art erworben, nämlich als Sammelprämie bei einer Tankstellenkette in Deutschland.

Es gab einige typische Anlaufpunkte, an denen man die anderen Reisenden traf. Die Touristeninformation einer Stadt gehörte natürlich dazu; mehr noch, weil sich jeder Einzelne länger dort aufhielt, die Internetcafés. Andere Touristen waren die besten und glaubwürdigsten Informationsquellen, denn sie interessierten sich für dieselben Dinge, man hatte das Gefühl, in einem Boot zu sitzen, und sie hatten kein Interesse daran, einen irgendeinem Händler in die Fänge zu treiben.

In San Ignacio in Belize hatte ein Brite den Bedarf des Informationsaustausches zwischen Reisenden erkannt und mit einer guten Idee zu einem großen Geschäft gemacht. Er bot Informationen über Touren in die Umgebung – kostenlos. Sein Lokal, das »Eva's«, war praktisch mit Informationsblättchen tapeziert. Das führte dazu, dass alle Reisenden sich dort einfanden. Der Laden war immer voll. Der Brite verdiente zwar nichts an den Infos, war aber mit seinen Zimmern immer ausgebucht, verkaufte eine Menge Speisen und Getränke, und wenn er etwas vermittelte – zu recht anständigen Preisen übrigens, er wusste, dass ein schlechter Bericht in einem der einschlägigen Reiseführer seine sprudelnde Goldquelle zum Erliegen bringen konnte –, dann bekam er sicher eine Provision.

Natürlich traf man auch Leute, die das Reisen zu ihrem Leben gemacht hatten. George etwa: einen US-Amerikaner, dem ich in Cancun, Mexiko, begegnete. Er verkörperte den Typus des Rekord-Weltreisenden, hatte den Globus bereits sechsmal umrundet, war jetzt auf seinem siebenten Trip. Fünfzehn Staaten fehlten ihm noch, dann hatte er jedes Land der Welt einmal betreten. Er war allerdings eher ein »Sammler« als ein »Erleber«. Durch den Iran beispielsweise wollte er nur mit dem Bus hindurch fahren, sich möglichst kurz aufhalten, nur ein paar Stunden, falls das ging. Ich dagegen versuchte, die Orte, die ich besuchte, intensiver kennen zu lernen, dafür dann weniger Ziele anzusteuern. Ich bildete mir ein, nachher mehr von der Welt zu wissen als George.

Was nicht bedeutete, dass der nicht auch interessante Sachen erzählen konnte. In seinem doch eher ruhelosen Leben hatten Frauenbekanntschaften anscheinend die Dauerhaftigkeit von Seifenblasen. Dementsprechend umfassend waren seine Kenntnisse im Bereich der bezahlten Liebesdienste, einem Gebiet, auf dem ich vollkommen ohne Erfahrung war. Er jedenfalls konnte sehr unterhaltsam über die verschiedenen Regelungen in allen Ecken der Welt berichten, beispielsweise, dass die mexikanischen Schönheiten sich bekreuzigten, wenn man das Entgelt großzügig aufrundete, oder dass französischsprachige Damen zu bevorzugen seien, da sie auf Grund einer Vorstellung von Berufsehre stets engagiert bei der Sache seien. George lebte ganz anders als ich, ich hätte auch nicht mit ihm tauschen wollen, aber er war ein umgänglicher, unkomplizierter Typ, wirklich sympathisch. Sein Heimatland mochte er nicht wirklich, den Präsidenten noch weniger: »Ihr hattet euren Hitler, wir haben unseren Bush, jetzt sind wir quitt.« Diesen Vergleich fand ich nun doch unangebracht, aber George erzählte, dass er sich in vielen Ländern als Kanadier ausgab, weil die US-Amerikaner nun einmal nicht sehr angesehen seien.

George plante, sich im Laufe seiner siebenten Weltreise zur Ruhe zu setzen. Seine CD-Sammlung mit 3.000 Titeln war in einer Seekiste auf dem Weg nach Australien, wo er eine Jugendherberge aufmachen wollte. Vielleicht gelang es ihm, dann würde ich dort gern einmal Station machen, denn eine Menge Geschichten hatte er ohne jeden Zweifel zu erzählen.

Einen seltsamen Reisenden traf ich in Goa. Heinrich kam aus Hamburg, war in der Rotlichtszene aufgewachsen, dann ausgestiegen. Seit zehn Jahren lebte er in Indien, war dort immer wieder für ein paar Wochen sesshaft. Aus seinem früheren Leben bekam er alle drei Monate eine Überweisung von 500 Euro, das reichte zum Leben im Land der heiligen Kühe. Ich war sein bevorzugter Gesprächspartner, denn ich war so, wie er vor zehn Jahren gewesen war, zwar in einem Urlaubsjahr, aber ansonsten in einem Karriereberuf fest eingebunden. Wir redeten über Deutschland, Hartz IV, über das Leben im Allgemeinen und seine Gestaltung. Beispielsweise hatte Heinrich Sehnsucht nach einer Frau, aber nicht primär aus sexuellen Antrieben, die ließen sich anderweitig befriedigen. Auch eine Inderin kam in der Regel nicht in Frage, einfach deswegen, weil die meisten indischen Frauen ein eher niedriges Bildungsniveau hatten, und Heinrich suchte einen Menschen zum dauerhaften Zusammenleben, mit dem er sich intellektuell austauschen konnte. Der Traum jeder deutschen Frau, soweit ich das beurteilen konnte. Aber Heinrich orientierte sich in Richtung Israel, nach den Menschen, die er von dort kennen gelernt hatte. Ich wünschte ihm, dass es klappen möge. Er wirkte unsicher, hatte vielleicht ein wenig Angst vor der Welt außerhalb Indiens, das ihm wohl so etwas war wie ein Schneckenhaus, aus dem er sich seit einem Jahrzehnt nicht mehr heraus traute. Vielleicht hätte eine Partnerin ihm helfen können, das Selbstvertrauen zu finden, nach dem er suchte. Ein schlechter Mensch schien er nicht zu sein, zu mir war er ausgesprochen freundlich, brachte mich zum Abschied mit seinem gemieteten Motorrad zum Bus.

Auch weniger Reisende als Leute, die einfach nicht mehr in ihrem Heimatland lebten, waren einige der Taucher, die ich auf Utíla traf. Mehrere von ihnen waren in dem Halbjahr um den Jahreswechsel am Great Barrier Reef in Australien gewesen, bevor sie nach Honduras gekommen waren. »Ich nehme mir eben einen Sommer frei für das Tauchen«, grinste einer von ihnen. »Einen langen Sommer, drei Kalenderjahre bis jetzt.« Das war durchaus möglich, denn die Welt der Taucher war eine in sich abgeschlossene. Auf einem Boot, das zu einem Riff hinaus fuhr, war vollkommen bedeutungslos, welchen Beruf man hatte; wesentlicher war, ob man schon mal einem Barrakuda begegnet war. Die Branche, die sich um diesen Sport gebildet hatte, mit Tauchlehrern, Kapitänen, dem Personal der Tauchschulen, Hoteliers war groß genug, um eine Menge Tauchfanatiker zu ernähren. Diese wurden auch bevorzugt eingestellt, denn auf einer Insel wie Utíla wollte jeder Gast über die Welt unter Wasser fachsimpeln. Wenn ein Hotel hier anregende Gesprächspartner stellen konnte, dann zahlte sich das aus.

Gleichgesinnte suchten auch die Gäste in dem großen Blockbau der Jugendherberge in Chicago. Die meisten von ihnen waren Teilnehmer an einem Schreiberkongress. Während man im Literaturstudium in Deutschland eher zum Kritiker ausgebildet wurde, lag in den USA der Schwerpunkt auf dem Heranführen auf ein eigenes kreatives Schaffen hin. Überhaupt war das »Kreative Schreiben« (»Creative Writing«) eine große Szene mit Bergen von Fachliteratur, Vereinen, Dachverbänden und eben auch Kongressen zum Thema. Zufällig bemerkte einer der Gäste, dass ich Victor Hugos »Die Elenden« las, darüber kamen wir ins Gespräch. Er war Doktorand an der Universität von Tallahassee in Florida, bei dem Schreibertreffen besuchte er vorwiegend Vorträge, die seinen Kriminalgeschichten zum letzten Schliff verhelfen sollten. Ansonsten war er kein Kind von Traurigkeit, beinahe im Alleingang leerte er am Abend eine Flasche Whisky. Das bekam ihm nicht gut, er grölte herum, kippte Stühle um, zerdepperte die Flasche an der Wand. Auch für Schriftsteller galt: Wer das Saufen nicht vertragen konnte, der sollte es bleiben lassen, dachte ich.

Aus Thailand bleiben mir viele nette Menschen in Erinnerung. Ihr Humor lag auf meiner Wellenlänge. Bei Fräulein Aong vom Apple Guest House in Kanchanaburi erkundigte ich mich nach den Einzelheiten einer Tour, die dort angeboten wurde. Ein Punkt dort war der »Elephant Trail« (Elefantenpfad). Nach meinen bisherigen Erfahrungen hatte ich mir angewöhnt, immer genau nachzufragen, was in einem zu buchenden Paket enthalten war. »Wir reiten also auf Elefanten?«, versicherte ich mich. Immerhin hätte es ja auch sein können, dass man nur zu Fuß einen Pfad entlang wanderte, den auch die Elefanten durch den Dschungel nahmen. Fräulein Aong lüpfte keck eine Augenbraue. »Nein, Sie müssen die Elefanten tragen.«

In Chiang Mai probierte ich eine Thai-Massage aus. Ich hatte Bedenken, denn ich war auf dem Rücken sehr kitzlig. Vielleicht würde ich nicht still liegen bleiben können, der Masseurin den Tag verderben, wenn ich mich lachend auf der Matratze winden würde.

Zuerst wurden mir die Füße gewaschen. Dann bekam ich weit fallende Kleidung zum Umziehen. Die schnürte nichts ab und war außerdem so dünn, dass sie die Griffe der Fachfrau nicht verfälschte.

Meine Bedenken erwiesen sich als unbegründet. Ich kam nicht zum Lachen, zu stark waren die Schmerzen. Adern wurden abgepresst, tief liegende Gewebeschichten stimuliert. Die Masseurin legte manches Mal ihr gesamtes Körpergewicht über den gestreckten Arm, der dann über die zur Faust geballte Hand irgendetwas in meinem Oberschenkel gegen den Knochen drückte. Auch beliebt war es, mit beiden Händen an meinem Fuß zu ziehen, während sie gegen die großen Muskelpakete in meinen Beinen trat. Wenn mir ein Laut der Klage entfuhr, lachte sie.

Die Stunde war also nicht wirklich angenehm, aber danach war ich überrascht: Lange schon war ich nicht mehr so entspannt gewesen. Deswegen kam ich ein paar Tage später wieder, dieses Mal wollte ich etwas Anderes ausprobieren, ich nahm eine Ölmassage.

Die war schon eher so, wie man es sich vorstellte: Bis auf die Unterhose war ich nackt, eine aromatische Flüssigkeit wurde sanft in die Haut einmassiert. Die Masseurin war eine andere. Sie war 27 (natürlich, die perfekten fünf Jahre jünger als ich) und sprach etwas Deutsch, ihre Schwester hatte in Nürnberg geheiratet. Im Dezember wollte sie sie besuchen, aber das war nicht einfach. Während ich als Deutscher bei der Einreise nach Thailand nur meinen Pass vorzeigen musste, um kostenlos ein 90-Tage-Visum hinein gestempelt zu bekommen, sah das Prozedere für sie deutlich komplizierter aus. Zunächst einmal benötigte sie eine schriftliche Einladung, musste Versicherungen nachweisen, in zwei Raten ein Visum bezahlen, insgesamt 35.000 Baht (700 Euro), eine Menge Geld. Das zahlte ihr Schwager, sie würde dafür während ihres Aufenthalts im Haushalt helfen. Von Deutschland würde sie wohl über Nürnberg hinaus nur wenig zu sehen bekommen. Das kannte sie schon, es würde ihr dritter Besuch dort sein. Daher hatte sie auch schon einen Eindruck von Deutschland gewinnen können. Es gefiel ihr, doch nicht alles sah sie positiv: »Dort sind die Menschen so allein, jeder ist für sich ...«

Sie flirtete auch ein wenig mit mir. Viele Touristen würden ihr ja sagen, dass sie schön sei, obwohl sie selbst das ja gar nicht fände. Klares Fishing for Compliments, ich ging nicht darauf ein, denn ich wollte keine falschen Erwartungen wecken. Sie fragte auch, ob ich Musik möge, wir würden ja zusammen in die Disco gehen können heute Abend, ins »Boba« (thailändische Aussprache von »Bubbles«). Ich verzichtete.

In Washington dagegen hatte ich am Nachtleben teilgenommen, oder hatte es wollen. Im Internet hatte ich mir die Wegbeschreibung zu einem interessanten Club herausgesucht, aber in der Nähe der angegebenen U-Bahn-Station war nichts zu finden. Ich ging in ein libanesisches Restaurant, auch dort wusste man von dem angekündigten Feature nichts. Es sei auch keine rein private Veranstaltung, zu der nur eingeladene Gäste Zutritt hätten? Hm. Seit zwanzig Jahren wohnten sie am Block, aber davon hatten sie noch nichts gehört. Und jeden Mittwoch sollte das stattfinden? Wir riefen bei der Telefonauskunft an. Kein Ergebnis. Der Wirt und sein Freund Stoney waren nun selbst neugierig, wollten herausfinden, wo die Party stieg. Stoney, der erklärte, er sei »der Mann, der sich auf der Straße auskennt«, schloss sich mir an. Mit meinem Mietwagen kreuzten wir durch das Stadtviertel. Mein Begleiter kannte tatsächlich jeden Barkeeper, aber keiner von denen wusste etwas von dem von mir gesuchten Event. »Probiert es mal da und da«, »fragt mal bei dem und dem«, hieß es meist. Es war wie eine Schnitzeljagd. Einmal stieg Stoney sogar auf eine Theke, bat um Ruhe und fragte die Gäste, ob sie mein Feature kannten. Wir würden es nicht finden, am Ende gab ich Stoney einen aus, und ich war mir nicht sicher, ob ich mehr Spaß gehabt hätte, wenn ich an diesem Abend mein Ziel ohne Umstände erreicht hätte. Stoney war auch zufrieden. »Egal, wo du hinkommst auf deiner Weltreise«, rief er mir zum Abschied nach, »vergiss nicht, dass du überall Freunde hast.«

Oftmals waren die Begegnungen deutlich kürzer. In Mexiko oder Thailand bekamen die Schulkinder häufig die Hausaufgabe, Interviews mit Touristen zu führen, um ihre Konversationsfertigkeiten im Englischen zu verbessern. Die meisten Fragen waren immer gleich: »Woher kommen Sie?«, »Was haben Sie in unserem Land bereits bereist?«, »Was werden Sie sich noch anschauen?« In Mexiko schienen sich die Lehrer auch kulinarisch zu interessieren: »Welches ist Ihre Lieblingsspeise in Mexiko?« Mit meiner Antwort: »Ich esse gern bei McDonald's« sammelte ich Punkte bei den jungen Leuten. Originell war die Frage: »Haben Sie jemals eine wichtige Person getroffen?« Schlagfertig konterte ich: »Natürlich, ständig, im Moment treffe ich zum Beispiel dich.«

Häufig war auch der Wunsch nach Fotos, besonders in Thailand. Dort war der Wohlstand bereits soweit verbreitet, dass der durchschnittliche Thai eine Kamera besaß, und man war als »Rundauge« exotisch genug, um ein gutes Motiv abzugeben. Junge Damen, Schulklassen, Familien mit kleinen Kindern – mein Bild würde in so manchem Album zu finden sein. In Punjab, Indien, war das Begehren nach einem gemeinsamen Foto so stark ausgeprägt, dass es gar nicht so leicht war, einen Schnappschuss zu machen, auf dem man allein zu sehen war. Sobald die Einheimischen erkannten, was man vor hatte, drängten sie sich mit auf das Bild – manchmal in solchen Massen, dass das Motiv, das man sich eigentlich für den Hintergrund ausgeguckt hatte, vollständig verdeckt war.

Zwar reiste ich auf eigene Faust, dennoch kam ich immer wieder mit Reiseführern in Kontakt. Manchmal buchte ich eine Tour für ein paar Tage, etwa ins Outback von Australien. Die Reiseführer dabei waren dann Fachleute für den Busch, machten Tiere in unübersichtlichem Gelände aus, erläuterten die Geologie von Uluru und erzählten die Geschichten der Aborigines. Den bleibendsten Eindruck hinterließ John, ein Reiseführer im indischen Khajuraho. Er wusste hundert Details über die Hindutempel mit den erotischen Steinschnitzereien zu berichten, war selbst aber Christ. Von der Qualität seines Services war er überzeugt: »Wenn es euch nicht gefällt«, meinte er zu den beiden Polen und mir, die wir ihn gemeinsam anheuern wollten, »dann braucht ihr nichts zu bezahlen. Das ist meine Garantie, ich weiß, dass es Führer gibt, die selbst nichts wissen und den Leuten nichts bieten.« Die Polen wollten ein Foto gemeinsam mit ihm machen. John zögerte, stimmte dann aber zu. John erzählte, dass er Anglistik studiert habe. In Indien mit seinem riesigen Arbeitsmarkt, generiert von einer Milliarde Menschen, gab es auch für gut qualifizierte Berufe ein Überangebot, das die Gehälter drückte. Deswegen führte John Touristen durch die Hindutempel. Er liebte Shakespeare. Ich fragte ihn, was er von den modernen Verfilmungen hielt, »Romeo und Julia« etwa. Er hatte sie nicht gesehen, denn er war noch nie im Kino gewesen. »Ich verurteile niemanden, aber ich persönlich möchte mein Leben zu 100% mit Jesus leben.« Wieso ein Kinobesuch dem entgegenstand, verstand ich nicht. Ich hatte noch nie daran geglaubt, dass es Gott gefiel, wenn man sich der von ihm geschaffenen Welt entzog, zu der für mich auch kulturelle Errungenschaften wie das Kino gehörten. Schließlich war der Mensch Teil der Schöpfung, damit auch die von ihm aufgebaute Kultur.

Einen Wohltäter traf ich auf dem Rückweg von Darjeeling in die Talstation. Der Toy Train lag weit hinter dem Fahrplan, ich entschloss mich, auszusteigen und an der Straße auf den schnelleren Bus zu warten, um nicht meinen Anschlusszug zu verpassen. Das bemerkte ein Mann, fragte, ob er mich begleiten dürfe, und holte dann seinen Koffer, um sich mit mir an den Bordstein zu setzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Bus kam, er erzählte mir eine Menge von Indien, sein Englisch war besser als meines, wie wir amüsiert feststellten. Mein Begleiter trug westliche Kleidung, erinnerte im Gesicht an einen Waldschrat, schwarzes, zauseliges Haar, ein wuscheliger Vollbart, so stellte man sich einen Guru vor. In der Tat schien er philosophisch interessiert, berichtete mir davon, dass er ständig mit den Menschen sprach, um sie von ihren separatistischen Wünschen abzubringen. Es münde immer in Gewalt, wenn man sich aus der Indischen Union lösen wolle, meinte er. Aktuellen Anlass zur Besorgnis gab es im äußersten Nordosten, in der Provinz Nagaland, wo die Christen revoltierten und wohin man nur mit Sondergenehmigung reisen durfte. Zwei Tage zuvor hatte es dort eine Serie von Bombenanschlägen gegeben.

Ich zahlte den Bus für uns beide, er war neben mir eingeschlafen. In Siliguri mussten wir noch von der Bushaltestelle zum Bahnhof kommen. Ich sprach zwei Motorrikschafahrer an. 70 Rupien wollten sie. Mein Begleiter brachte uns für fünf Rupien pro Nase unter.

Ich war zu spät, 30 Minuten, aber auf die indische Eisenbahn war Verlass: Der aus Kolkata kommende Zug hatte zwei Stunden Verspätung. Mein Begleiter, seinen Namen konnte ich mir nicht merken, zu fremd klang er in meinen Ohren, kaufte sich eine Bahnsteigkarte, um mir Gesellschaft zu leisten, gab mir an einem Kiosk ein Getränk aus. Erst, als ich den für mich reservierten Platz im Waggon gefunden hatte, nahm er Abschied. Ich bedankte mich, sagte ihm, dass er wahrhaftig einem Fremden geholfen habe. Er küsste meine Hand.

Die mutigste Frau begegnete mir in Amritsar. Sie war eine Pensionärin aus den USA, die sich besonders für die Sikhs interessierte. Sie sprach lediglich Englisch, reiste als alte Dame allein, befand sich das erste Mal in ihrem Leben außerhalb der USA und hatte sich eine Reiseroute für ein halbes Jahr zusammengestellt. Gleich nach ihrer Ankunft eine Woche zuvor in Neu-Delhi hatte sie erstes Lehrgeld gezahlt, war den Schleppern am Bahnhof ins Netz gegangen.

Auch die Jugendherberge in Salt Lake City war ein Ort für denkwürdige Begegnungen. Es gab Leute, denen strahlte die Begrenztheit der intellektuellen Fähigkeiten aus dem Gesicht. Der Rezeptionist gehörte dazu. Ich stand ihm mit meinem großen Rucksack auf dem Rücken gegenüber. Er lehnte sich weit in seinem Bürostuhl zurück und fragte mich: »Was kann ich für dich tun?«

»Ich hätte gern ein Bett für die Nacht. Haben Sie eines frei?«

»Lass mich nachsehen«, er tippte auf seiner Tastatur, »ja!«

Wahrscheinlich hätte er es schwerer gehabt, einen Eintrag für ein belegtes Bett zu finden, wie ich später feststellte. Es ging ans Bezahlen, wie in den USA üblich mit Kreditkarte. Er brauchte ein paar Anläufe, um das Gerät richtig zu bedienen. Als der Ausdruck kam, schlug er die Hand vor die Augen: »Ich habe mich vertippt. Die Übernachtung kostet 24,99 US-Dollar, ich habe 25,00 US-Dollar eingetippt – kannst du mir den fehlenden Cent in bar geben, sonst muss ich alles noch mal eintippen?«

»Err, wenn ich hier jetzt für einen Cent mehr unterschreibe, dann schulden Sie mir das Geld, nicht umgekehrt.« Es bedurfte zweier weiterer Erläuterungsansätze, bis er begriff. Den Cent durfte er behalten.

Auf meinem Zimmer sah ich einen Zettel an einem der Betten: »Hier schläft Joseph Howe, bitte suchen Sie sich einen anderen Platz.« Joseph, das war ein 24jähriger Bursche, der hier seit September wohnte – jetzt war es Ende Juni. Er sah sich selbst lieber als jemand, der in einer Jugendherberge wohnte, nicht als jemand, der in einem Apartment lebte. Hier wollte er bleiben, bis er heiratete – eine spezielle Kandidatin dafür war nicht in Sicht, was ihn aber nicht beunruhigte – oder bis er leichter studieren konnte. Hätte er jetzt einen Platz beantragt, hätte sein Vater seine Finanzen offen legen müssen, das galt es zu vermeiden.

Joseph befand sich in einer sehr merkwürdigen Phase seines Lebens, sinnierte er. Er schrieb ein Buch über die beiden kontroversesten Themen, die es seiner Meinung nach gab. Ich sollte raten, welche, und tippte auf »Liebe« und »Tod«.

»So ähnlich«, meinte er, »Religion und Politik.«

Das »so ähnlich« meinte er nicht zynisch, glaube ich, in seiner Weltsicht war das wirklich kein großer Unterschied. Da er keine Schreibmaschine und keinen Computer besaß, verfasste er sein Manuskript per Hand. Es füllte einen kleinen Koffer, der unter seinem Bett lagerte. Tagsüber verbrachte er eine Menge Zeit in der Bibliothek, zur Recherche. Auch mich befragte er, über die Europäische Union, in seinem Werk ein wichtiges Kapitel, über das er wenig wusste, hatte er doch die Vereinigten Staaten niemals verlassen. Bei seinen Gesprächen mit Reisenden, die er in der Jugendherberge getroffen hatte, hatte er aber schon herausgefunden, dass diese die Welt außerhalb der Grenzen, in denen das Sternenbanner wehte, als gar nicht so unfrei empfanden, wie er immer angenommen hatte. Jedenfalls meinte er, dass Staatenbünde wie die EU zu einem großen, vielleicht einem Weltkrieg führen würden, einem, der kommen müsse, das sei Teil seiner religiösen Überzeugungen.

Joseph Howe mag in dieser Schilderung als alberne Figur erscheinen, aber das war er nicht. Welten trennten ihn von den lockeren Literaturstudenten, die ich beim Schreiberkongress in Chicago getroffen hatte. Er war von tiefem Ernst geprägt, schlief kaum, versuchte, in dieser »seltsamen Lebensphase« so viel Zeit wie möglich zur Recherche und zur Niederschrift seines Buches zu verwenden. Wenn ich jemals jemanden traf, der bereit war, alles, was er zu geben vermochte, in sein Werk zu investieren, dann war er es. Sollte es erscheinen, werde ich es lesen.

Wirklich bedauernswert erschien mir ein junger Häftling, der in Begleitung einer mit einer Maschinenpistole bewaffneten Wache in einem Bus in Honduras reiste. Er war höchstens 15. Seine Handschellen musste er die ganze Zeit tragen. Zu spät bemerkte er, dass die Zahnpasta-Tube, die er bei sich führte, sich geöffnet hatte. Ich gab ihm ein Taschentuch, damit er sich wenigstens notdürftig reinigen konnte. Sein Blick war verzweifelt. Es wunderte mich nicht, über zentralamerikanische Gefängnisse hörte man nichts Gutes.

Manchmal traf ich Leute, deren Geschichte mich sehr interessierte, mit denen ich aber dennoch nicht ins Gespräch kam, weil mir die richtigen Fragen nicht einfielen. So jemand war Olivier, dem ich in Thailand begegnete. Er war Franzose, lebte jetzt in Paris, war aber in Französisch-Kongo aufgewachsen (Kongo Brazzaville, nicht zu verwechseln mit der Demokratischen Republik Kongo), nach den Unruhen dort übergesiedelt. Wie mochte es wohl sein, zwei so unterschiedliche Länder intensiv zu kennen und vergleichen zu können?

Größte Zuneigung brachte mir ein betrunkener, alter Herr im thailändischen Lampang entgegen. Er schwankte auf mich zu: »Küss' mich, ich gebe dir fünf Baht!« Ich konnte mich gerade noch beherrschen und verzichtete auf die zehn Cent.