Portraet
Namenszug

Kleine Fehler

von Bernard Craw

Slitsch


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Mit bitterem Lächeln sah Hinragan auf die drei Gestalten herab. Sein Blick war voller Mitleid für den Herren des Hauses. »Dies ist also Eure Tochter.« Es war keine Frage; die beiden anderen, ein Knabe und ein Mädchen, hatten die bronzene Haut der Rayoti. Nur bei dem Körper, der in der Mitte lag, schimmerte zartes Blau unter der Leichenblässe.

»Sie war es«, bestätigte der Zemindar, ein kräftiger Mann mittleren Alters, jedoch von Trauer und hilfloser Wut gebeugt.

Hinragan nickte, schob den Morgenstern an seinem Gürtel ein wenig zurück und strich der Toten mit der anderen Hand zärtlich über die Wange. »Wir müssen uns beraten, bevor wir beginnen können.« Sein Drachenlederpanzer knirschte, als er sich aufrichtete, seine Gefährten auffordernd ansah und den Raum verließ.

Sie waren zu viert gekommen: Hinragan, der berühmte Dämonenfresser, Dilas und Vronar, erfahrene Recken des Jagannatha-Kults, und Muranar, der Adept, der gerade erst das Studium der Bücher abgeschlossen und seine Weihe erhalten hatte. Eigentlich zu viele für einen solchen Auftrag, bei dem es vermutlich nur um niedere Dämonen ging, die einen Dorfschrein entweiht und die Felder unbrauchbar gemacht hatten. Von den Toten war noch keine Rede gewesen, als ihre Waffen im Jagannatha-Tempel von Ilapsur gesegnet worden waren.

»Sieht so aus, als wäre die Lage außer Kontrolle geraten, während wir noch auf der Reise waren«, meinte Dilas, als die vier gemeinsam unter dem großen Baum auf dem Dorfplatz saßen. Die Skimitarnarbe, die quer über seine Nase lief, leuchtete weiß, wie immer, wenn er in der Mittagssonne schwitzte.

Hinragan zuckte mit den Schultern. »Eine Tragödie, ja. Aber wir konnten nicht schneller kommen. Jetzt müssen wir es rasch zu Ende bringen.«

»Nun werd' nicht gleich bleich!« Lachend hieb Vronar auf Muranars Rücken. »Wir sind ja bei dir!«

Der Adept presste die Lippen zusammen und zwang sich zu nicken. Es war etwas Anderes, aus Schriftrollen die Namen der bekanntesten Dämonenfürsten zu lernen, als durch ein Dorf zu reiten, aus dem seine Bewohner geflohen waren. Überall starrten ihn die Fensteröffnungen leerer Häuser an, als wären diese selbst Dämonen. Und das Wissen, dass tatsächlich finstere Mächte zugegen waren, machte es noch schlimmer.

»Für uns alle gibt es ein erstes Mal«, sagte Hinragan sanft, mit väterlichem Blick. Über achtzig Jahre alt, von bedachtsamem, überlegtem Wesen, war er der erfolgreichste Dämonenjäger in Hattica. Muranar lächelte dankbar.

Der Dämonenfresser musste wohl den bewundernden, fast verträumten Blick des Adepten bemerkt haben. Hinragan räusperte sich. »Muranar wird einen Blick durch die Augen der Dämonen tun«, bestimmte er. »Dilas, Vronar, ihr legt einen Schutzkreis um diesen Hain. Es kann nicht schaden, wenn wir einen sicheren Rückzugspunkt haben. Ich spreche derweil mit dem Zemindar.«

Der Blick durch die Augen des Dämons war im Grunde eine einfache Sache, nur, dass Muranar die Welt noch nie an einem entweihten Ort mit dämonischen Augen gesehen hatte. Bislang waren es immer nur Übungen auf dem Gelände des Tempels gewesen, wo man für diese Zwecke harmlose Gegenstände aufbewahrte, die vom Hauch eines Dämons gestreift worden waren. Sie sahen unter der speziellen Sicht prächtiger, bedeutender aus als für sterbliche Sinne.

Als Muranar hier nach seinem Gebet die Augen öffnete, sah er zerrissene Erde, aus der schwarze Schwaden waberten, aufgebrochenes, vergewaltigtes Land. Er meinte, den Boden schreien zu hören. Er fasste den geweihten Kampfhammer fester, als er durch das Dorf schritt. Er sah, wie eine lose Schlaufe seines Turbans vor seinen Augen flatterte, aber den Wind spürte er nicht auf der Haut. Er konnte nur langsam einen Fuß vor den anderen setzen; Gefühllosigkeit und Taubheit behinderten das Gleichgewicht. Im Schrein der Dorfgottheit sah er eine kleine, goldene Gestalt, die ängstlich an den Stäben eines feuerroten, flammenumtosten Käfigs rüttelte, den Mund in stummer Qual geöffnet. Die Bäume waren verdreht und gebeugt, als würden auch sie sich in Schmerzen winden. Aus den Häusern, die durchscheinend wirkten, als wären sie aus rotem Nebel gebaut, sahen ihm in stummer Klage Abbilder der ehemaligen Bewohner entgegen. Zwischen all dem hüpften kleine, meckernde Gestalten, die nackten Affen glichen, mit schorfiger, aufgebrochener Haut, die schiefen Mäuler zu zähnefletschendem Grinsen verzogen.

Er drehte sich um, wollte gerade die Wunderkraft seines übersinnlichen Gesichts fallen lassen, als er eine schwarze Echse über dem Hain fliegen sah, den Dilas und Vronar sicherten. Die Augen der Bestie loderten. Ihr Körper bestand aus einem Schädel mit langen Reißzähnen, einem paar weiter Flügel und einem tanzenden Schwanz mit einem gewaltigen Stachel an seiner Spitze.

Sofort kehrte Muranar zu seinen menschlichen Sinnen zurück. Die Echse war noch immer da, und jetzt hörte er sie auch brüllen. Auch die Schreie seiner Gefährten vernahm er nun. Es war zu wenig Zeit, um Angst zu empfinden, und so rannte er los, den Kampfhammer mit beiden Händen vor der Brust haltend.

Für einen kurzen Augenblick stand die Echse still in der Luft, dann überschlug sie sich. Der Schwanz peitschte erst durch die Luft, dann über den Boden. Muranar hörte einen Schrei. Jetzt sah er auch seine Gefährten; Vronar lag schwer getroffen am Boden, Dilas stand über ihm, seine beiden Skimitari der Dämonenechse entgegen gestreckt. Hinragan rannte mit einem Kampfschrei aus dem Haus. Auch Muranar schrie. Die Echse wandte sich hierhin und dorthin, dann hoben die ledrigen Flügel sie in die Höhe, der Sonne entgegen. Sie wurde ein kleiner Punkt vor gleißender Helligkeit, und als Muranar blinzelte, war sie verschwunden.

»Das ist er also!«, rief Hinragan. »Ein Slitsch! Wer hätte das gedacht?«

Vronar stöhnte. Die Gefährten wandten sich ihm zu. Der Stachel der Echse hatte seinen Drachenlederpanzer am Bauch durchschlagen, und als Dilas ihm den Rücken stützte, war seine Hand blutig.

»Mich hat er erwischt«, ächzte Vronar. »Wie schlimm sehe ich aus?«

Er hustete schwer. Blut brach aus seinen Lippen.

Hinragan sah ihm fest in die Augen. Langsam schüttelte er den Kopf.

Es dauerte eine Weile, bis Erkennen sich in Vronars trübem Blick abzeichnete. »Dann ... tut ihr es! Überlasst mich nicht ihm!«

Wenn jemand durch einen Dämonen stirbt, besteht die Möglichkeit, dass seine Seele Schaden leidet. Dilas und Hinragan trafen eine stumme Übereinkunft. Mit einem schleifenden Geräusch zog Dilas seinen Dolch. »Wir werden dich rächen«, sagte er, bevor er die Klinge durch die Kehle stach.

Sie brachten Vronars Leiche zu den anderen dreien und überredeten den Zemindar, mit seiner Familie nun ebenfalls das Landgut zu verlassen. Das war nicht leicht; Zemindari trennen sich niemals leicht von ihrem Land, vor allem dann nicht, wenn nicht sicher ist, dass sie zurückkehren können.

Die drei Dämonenjäger sprachen nicht viel. Was hätten sie auch sagen sollen? Ein Slitsch! Damit hatte niemand rechnen können. Ein Dämon, der die Ernte verdirbt, hatte es geheißen. So etwas taten Slitsches nicht. Aber vielleicht war dieser erst gekommen, nachdem ein anderer Verdammter sein Werk bereits beendet hatte?

Sie hätten nach Ilapsur zurückkehren können, um Verstärkung zu holen, aber dann wäre der Slitsch ins nächste Dorf weiter gezogen, das genauso schutzlos gewesen wäre wie dieses hier. Sie waren zu dritt, immerhin, und jetzt wussten sie, womit sie es zu tun hatten. Also blieben sie und stellten ihre Falle.

Es war leicht, den Käfig der kleinen Dorfgottheit zu sprengen, sodass ihr goldenes Licht sich wieder verstrahlte und die niederen Dämonen in der Umgebung in den Augen blendete. Auch war es nicht schwierig, diese niederen Dämonen mit einem minderen Schutzkreis fern zu halten, damit sie dem Schrein nichts anhaben konnten. Wenig mehr als die Anrufung von Jagannathas Namen war dazu nötig. Die Herausforderung lag darin, einen versteckten, mächtigen Bannkreis zu schaffen, der erst bei Bedarf beschworen werden würde und dazu bestimmt war, den Slitsch innen zu halten, nicht, ihn auszusperren. Zumal es eigentlich kein Bannkreis war, sondern eine Bannkugel, die auch eine Flucht in die Luft verhindern sollte.

Sie wachten abwechselnd bei ihrer Falle, erschlugen kleine Dämonen, wenn diese sich zu nah heranwagten. Sogar Muranar brachte zwei von ihnen zur Strecke, was seine Gefährten wohlwollend zur Kenntnis nahmen.

Am zweiten Tag war der Slitsch plötzlich da. Er tauchte aus dem Nichts auf, hing in der Luft über dem niederen Schutzkreis und brüllte markerschütternd. Wie erwartet, zersplitterte die Wehr schon bei seinem ersten Ansturm zu einem Regen goldener Funken. Gierig stürzte sich das Monstrum auf den Schrein, zertrümmerte das Götterstandbild und merkte gar nicht, dass Dilas und Muranar den Bannkreis heraufbeschworen, der sich als unsichtbare Kuppel über ihm schloss. Der Slitsch drehte sich um, suchte sie mit seinen flammenden Augen und stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Donnernd gebot ihm die Barriere Einhalt, als er inmitten der nur anscheinend freien Luft dagegen schlug.

»Sehr gut«, brummte Dilas. »Geh und hol den Meister, damit wir diese Kreatur dorthin zurück schicken können, wo sie her kam.« Der Schweiß auf seiner Stirn strafte seine ruhigen Worte Lügen.

Muranar verstand nicht, dass Hinragan den Lärm nicht gehört hatte und nicht von selbst kam. Der Dämonenfresser hatte sich um die Leichen kümmern, sie für die Verbrennung festlich herrichten wollen.

Als Muranar den Raum öffnete, in dem die Toten aufgebahrt lagen, blieb er stehen, als sei er selbst gegen einen Bannkreis gelaufen.

Hinragan stand erstarrt vor dem blauhäutigen Mädchen, löste sich dann und ordnete hastig seine Kleider. »Was gibt es denn?«

»Der Dämon«, stammelte Muranar wie in Trance, »der Slitsch ist gekommen.«

»Na, dann wollen wir mal!« Entschlossen nahm Hinragan seinen Morgenstern vom Boden auf und schritt an Muranar vorbei, der sich in den Türrahmen presste, um den anderen nur ja nicht zu berühren.

Als der Adept den Bannkreis wieder erreichte, hörte er die beiden Dämonenjäger miteinander reden, während sie den wütenden Slitsch abschätzten.

»Das hier wird ihn nicht lange halten«, vermutete Dilas. »Wir sollten ihn schnell zurückschicken.«

»Zurückschicken?« Hinragan spie aus. »Damit er in ein paar Wochen wieder hier ist? Ich sage: wir zerschmettern ihn!«

»Wir sind nur zu zweit.«

»Wirklich?« Hinragan sah Muranar an, und zum ersten Mal schien Spott in diesem Blick zu liegen. »Wie viel ist deine Ausbildung wert, Junge?«

»Er ist doch nur ein Kind!«, entfuhr es Dilas.

»Dann wird es Zeit, dass er ein Mann wird!«

Dilas setzte zu einer Erwiderung an, sah auf das Rangabzeichen des Älteren und biss die Zähne aufeinander, als er seine Skimitari hob.

Grimmig nickte Hinragan, ließ die Kugel seines Morgensterns pendeln und trat in den Bannkreis, ohne darauf zu achten, ob die anderen ihm folgten.

Muranar wusste nicht, was er denken sollte. Schließlich entschied er, dass es besser war, gar nicht zu denken, packte seinen Kampfhammer fester und trat in den Kreis.

Für ihn war es ein kurzer Kampf. Ein Flügel des Slitsches wischte ihn durch die Luft, aus dem Kreis heraus und gegen einen Baum, mit solcher Wucht, dass ihm vier Rippen brachen und er sich nicht mehr rühren konnte. Er sah, wie die beiden anderen dem Dämon zusetzten, wie ihre heiligen Waffen Stücke aus seinem Schwanz und aus seinem Kiefer rissen, die sich dann wie Rauch auflösten. Der Dämon blieb ihnen nichts schuldig. Durch den Bannkreis war er beengt, aber sein peitschender Schwanz war dennoch eine todbringende Waffe. Erst fegte er Hinragan von den Beinen, dann zerschmetterte er Dilas' Turbanhelm. Der Kopf des Dämonenjägers brach wie ein Ei.

Was Muranar dann sah, mochte wohl eine Halluzination sein, hervorgerufen von den schmerzenden Knochensplittern in seiner Seite: Hinragan hatte seine Waffe verloren, aber seine Hände leuchteten strahlend golden. Wuchtig stieß er sie zwischen die Flügel der Bestie und riss ihre dampfenden Gedärme heraus, fasste nach und hatte dann etwas Pulsierendes zwischen den Fingern. Als er es zerquetschte, heulte das Monster auf und verging zu schwarzem Qualm.

Am nächsten Morgen brannten die Leichenfeuer in ihrem Rücken, als Muranar und Hinragan sich auf den Rückweg machten.

»Du siehst bedrückt aus«, stellte Hinragan fest.

»Meine Brust schmerzt bei jedem Schritt meines Reittiers.«

»Das ist es nicht, oder?«

Muranar presste die Lippen aufeinander, wollte den Dämonenfresser nicht ansehen.

»Es ist immer hart, wenn der Glaube geprüft wird.«

»Wie ... wie könnt Ihr?«

Bedächtig fuhr Hinragan sich durch den Bart. »Eine dunkle Lust, eine verzehrende Sehnsucht, eine Erfüllung. Probiere es niemals aus, oder du wirst ihm verfallen, mein Schüler.«

»Euer Schüler? Eher würde ich mir den Dolch ins Herz stoßen!«

»Ich kann das verstehen. Wirklich. Wir werden zwei Tage brauchen bis nach Ilapsur; genug Zeit für dich, darüber nachzudenken, was du dem Tempel erzählen willst. Wie immer du dich entscheidest, mir wird es recht sein. Vielleicht wird es wie eine Erlösung sein, wenn ich nichts mehr mit Dämonen zu tun haben muss. Aber du hast gesehen, dass Jagannathas Wohlwollen auf mir ruht. Nicht wahr? Das hast du!«

»Ja«, quetschte Muranar hervor. Diese goldenen Hände ... nie hatte er davon gehört ...

Hinragan seufzte. »Durch mich starben mehr Dämonen als durch jeden anderen lebenden Mann. Wie gesagt, die Entscheidung liegt bei dir. Ich werde dich an nichts hindern und auch nichts abstreiten. Aber die Tochter des Zemindars wurde nun verbrannt, wie es der Ritus vorsieht. Was wir für ihre Wiedergeburt tun konnten, das haben wir getan. Ihr Vater wird aus der Asche nichts herauslesen können. Und ich bin kein Vergewaltiger. Nicht wirklich.« Er lächelte bitter. »Tote Mädchen sagen niemals nein.«