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Namenszug

Kai Meyer: »Die Wellenläufer« – Hörbuchversion

von Bernd Robker


Wer die Rezension nicht online lesen möchte, kann sie auch als pdf herunterladen.


Die Wellenläufer (5 CDs, 6 Std 12 Min, 2004)
Die Muschelmagier (5 CDs, 7 Std, 2004)
Die Wasserweber (6 CDs, 7 Std 45 Min, 2005)
HörCompany, ab 10 Jahre
Text von Kai Meyer
Bearbeitung von Andrea Herzog
Gelesen von Andreas Fröhlich


Mehrere, in der Mehrzahl jugendliche Protagonisten reisen durch eine verzauberte, fantasy-hafte Version der Karibik, von der sie eine Bedrohung abwenden wollen, die in einer Gegenwelt, dem Mare Tenebrosum, lauert. Hierin eingeflochten werden einige Nebenplots behandelt. So soll ein Anspruch auf den Kaiserthron der Piraten durchgesetzt werden, ein verschollener Adoptivvater wird gesucht und zwei hauchzarte Romanzen entwickeln sich vor den lauschenden Zuhörern. Eine wesentliche Rolle in all dem spielen die namensgebenden Wellenläufer. Sie können über das Wasser gehen und nehmen nach alten Überlieferungen eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den vom Mare Tenebrosum ausgesandten Mahlstrom ein.

Die für den Autor typische Verbindung zwischen irdisch-historischem Hintergrund, in diesem Fall der Karibik zur Zeit der Piraten, und fantastischen Elementen prägt auch diese Reihe. Es wimmelt nur so von klauenbewehrten Klabautern, fliegenden Rochen mit ihren Reitern, Geistern, aus Leichenteilen zusammen gesetzten Monstrositäten und derlei mehr. Das am detailreichsten ausgearbeitete fantastische Element sind sicherlich die Wellenläufer, die auch eine spezielle Magie praktizieren, die auf der besonderen Kraft basiert, welche Muscheln innewohnt. Bei der Schilderung dieser Zauberei gelingt es dem Autor, die Mystik der Vorgänge trotz genauer Beschreibung des Geschehen zu bewahren und dem Hörer gleichzeitig den Eindruck von verlässlichen Gesetzmäßigkeiten zu vermitteln, die Möglichkeiten und Grenzen der übersinnlichen Kräfte definieren. Die Magie wird nicht zum Deus-ex-machina, der für die Handlungsträger das eigenständige Lösen ihrer Probleme obsolet machen würde, und ist andererseits auch nicht in das enge (Punkte-)Korsett gezwängt, das rollenspielgeschädigte Fantasyautoren den gequälten Lesern leider häufig präsentieren. Sie ist genau das, was sie sein sollte: zauberhaft.

Eine weitere Stärke der Trilogie sind ihre Charaktere. Hier dürfen wir von den abgeschmackten Standard-Figuren des Jugendbuchbereichs, den braven Waisenkindern mit Kontaktschwierigkeiten, Abstand gewinnen. Jolly beispielsweise ist eine unter Seeräubern aufgewachsene Göre, gepiercet, tätowiert, mit sechs Ohrringen versehen und bei jeder Gelegenheit wie ein Rohrspatz fluchend. Dazu kommen solch illustre Gestalten wie ein Mann mit dem Kopf eines Pitbulls, ein »hexhermetischer Holzwurm«, dessen Gedichten Andreas Fröhlich eine Stimme verleiht, die dem Zuhörer auch jenseits der poetischen Tiefschläge Schmerzen bereitet und eine Vielzahl von Piraten. Besonders gelungen sind die sinistren Gestalten, wie der Geisterhändler, der die Plantagen mit billigen Arbeitskräften versorgt, oder Tyrone, ein Kapitän, der sich zum König einiger Kannibalenstämme aufgeschwungen hat. Der erste Auftritt dieser Figur in »Die Muschelmagier« ist für mich die stärkste Szene der gesamten Reihe: da tritt er in den Fackelschein, groß, in schwarzen, silbern abgesetzten Samt gehüllt, mit hohen Stiefeln und angefeilten Zähnen, im Gesicht die rituellen Bemalungen seiner wilden Untertanen, die Zunge gespalten und an beiden Spitzen schwarz bemalt. Seine zischelnde Stimme lässt auch beim erwachsenen Zuhörer die Härchen senkrecht stehen.

Nicht nur die Anlage der Charaktere ist interessant, auch ihre Entwicklung ist für ein Werk, das dem Genre »Jugendbuch« zugerechnet wird, außergewöhnlich gelungen. Besonders die Figur Munk kann hier überzeugen. Wie Jolly ein Wellenläufer, besitzt er bereits zu Beginn der Erzählung beachtliche Fähigkeiten auf dem Gebiet der Muschelmagie, die er im Laufe der Handlung immer weiter vervollkommnet. Er sammelt jedoch nicht nur Fertigkeiten und Kenntnisse an, sondern macht auch eine starke innere Entwicklung durch, und zwar nicht nur im positiven Sinne. So wird er zu einem flammenden Kämpfer gegen den Mahlstrom, zahlt aber den Preis für seine erstaunlichen magischen Fähigkeiten in Form eines sich beständig steigernden Machtwahns, eines Willens, seine Umgebung dazu zu zwingen, ihm bei der Erfüllung des von ihm für richtig gehaltenen Plans zur Seite zu stehen. Diese Wandlung des anfangs harmlosen, verträumten Jungens geht so weit, dass der Zuhörer an den Punkt kommt, wo er sich fragen muss, ob Munk überhaupt noch auf der Seite der »Guten« steht, wobei die »Gut«/ »Böse«-Zuordnung ohnehin sehr schwer fällt. Hier begegnet der Stoff der grundsätzlichen Schwierigkeit des gewählten Settings. Alle Hauptfiguren entstammen mehr oder minder dem Piraten-Umfeld, das nun einmal letztlich nichts anderes ist als Raubmord zur See. Zum Glück verfällt Meyer nicht in die unglaubwürdige Verkitschung á la »Pippi Langstrumpf«, wo die schlimmsten Taten der Seeräuber in zünftigen Prügeleien nach übermäßigem Alkoholgenuss bestehen. Hier wird geplündert, gebrandschatzt, gemordet, Machtansprüche werden mit Gewalt durchgesetzt und auch von den Hauptfiguren, beispielsweise der Piratenprinzessin Soledad, erfahren wir, dass sie bereits mehrere Menschenleben auf dem Gewissen haben. Während aber der Fall von Munk in die Dunkelheit ausführlich begleitet und durch die Augen anderer Figuren deutlich gemacht wird, wird die Grundsatzfrage nach der Piraterie als Lebensform nur einmal kurz angeschnitten und nicht weiter vertieft. Das mag der märchenhaften Grundstimmung geschuldet sein. Dadurch bleibt es dem Leser überlassen, zu entscheiden, inwiefern der Broterwerb der Hauptfiguren einer Identifikation mit ihnen im Wege steht. Gekämpft und gestorben wird jedenfalls nicht zu knapp.

Zu absoluter Hochform läuft Kai Meyer bei der Beschreibung der heimlichen Hauptfigur der Reihe auf. Das ist kein Piratenmädchen, keine mystische Gestalt, auch nicht der Mönch im Wal, sondern die verzauberte Karibik als solche. Hier findet so ziemlich alles Verwendung, was das Piratengenre zu bieten hat. Es gibt das legendäre Tortuga, den Rat der Kapitäne, Seeungeheuer und Kannibalen, Segelschiffe und Kanonen, Papageien und kielgeholte Flaggennäher. Dazu kommen die »Tiefen Stämme«, sprechende Würmer, Gespenster und magische Adern tief unter der See. Mit einer Perfektion, die ich bei keinem anderen Autor gefunden habe, gelingt es Meyer, diese doch sehr vielgestaltigen Elemente zu einem Ganzen zu verbinden, das dem Zuhörer von einer inneren Logik getragen eine außergewöhnliche Dichte aufzuweisen scheint. Man »kauft ihm diese Welt ab«, diese Karibik, die direkt aus einem Traum geflossen sein könnte. Nur gegen Ende überspannt der Autor nach meinem Empfinden den Bogen, wenn er auch noch heidnische Gottheiten in seine Welt einführt, die ihre Heimat im dunklen, rauen Germanien und vom Permafrost geprägten Skandinavien besser nicht gegen die Karibiksonne eingetauscht hätten. Hier wird die »wilde Mixtur« zu wild, zumindest für meinen Geschmack.

Ansonsten jedoch macht die Entdeckungsreise durch die Karibik mit ihren immer neuen Wundern und Seltsamkeiten großen Spaß und ich bin dem Autor gern von Schiff zu Schiff, von Insel zu Insel gefolgt. Gerade in den ersten zwei Dritteln der Trilogie ist diese Reise prägend für die Handlung. Etwas vereinfacht zusammengefasst, werden in Teil 1, »Die Wellenläufer«, die Figuren vorgestellt, die sich dann in Teil 2, »Die Muschelmagier«, positionieren. Es ist beileibe nicht von vornherein klar, wer auf wessen Seite steht, nicht jeder sagt die Wahrheit, so mancher macht Fehler, eine Orientierung muss zunächst gefunden werden. Teil 3, »Die Wasserweber«, ist dann dem Kampf gegen den Mahlstrom (unter Wasser) und der Entscheidungsschlacht um den Stützpunkt der Hauptfiguren (über Wasser) gewidmet. Keines der drei Hörbücher ist in sich abgeschlossen. Zwar erinnern sich die Figuren manchmal an vergangene Ereignisse, aber diese Sequenzen können lediglich die Erinnerung an die vorherigen Teile auffrischen, sie jedoch nicht ersetzen. Dieser Ansatz hat aber ja auch ganz anderen Werken nicht geschadet – man denke nur an die »Herr der Ringe«-Trilogie.

Auffällig ist das Eigenleben, das Meyer seinen Figuren zugesteht. Wir begegnen hier keiner Abenteurergruppe, die im Sinne einer Erleuchtung von der Heiligkeit ihrer Mission überzeugt ist und für die Schwierigkeiten lediglich in äußeren Hindernissen bestehen, die es zu überwinden gilt. Bei den Wellenläufern gibt es wenigstens genauso viele Konflikte, die die Figuren untereinander oder gar in ihrem Innern austragen. Nicht jede Liebe wird erwidert, nicht jedes Gefühl ist rein und klar, nicht alle Figuren sind einander grün. Ein klares »Gut« und »Böse« wird nicht vorgegeben, auch die einzelnen Charaktere sind weder ganz Licht noch ganz Dunkel. Dem Zuhörer wird Raum für eigene Wertungen gelassen, was durchaus auch Raum für Diskussionen eröffnen mag. Da die Charaktere zwischenzeitlich auch gern mal eigene Ziele verfolgen oder unterschiedliche Aufgaben übernehmen, gehen die Figuren des öfteren getrennte Wege, was zu parallelen Handlungssträngen führt. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass ein größerer Bereich der Handlungsuniversums abgedeckt wird und wir immer neuen Aspekten der verzauberten Karibik begegnen dürfen.

Bei einem Hörbuch hat die technische Umsetzung vielleicht noch stärkeren Einfluss auf die Gesamtqualität als bei einem gedruckten Werk. Hier muss an erster Stelle die Bearbeitung des Textes durch Andrea Herzog erwähnt werden. Sie ist exzellent, was man daran bemerkt, dass sie überhaupt nicht auffällt. Zwar verrät das Beiblatt, dass der Text leicht gekürzt wurde, man hat aber niemals den Eindruck, dass etwas fehlen würde.

Auch der Sprecher Andreas Fröhlich (bekannt als deutsche Stimme von »Gollum« im »Herrn der Ringe«) leistet hervorragende Arbeit. Er schafft es nicht nur, durch seinen Duktus die jeweilige Stimmung einer Passage zu verstärken, sondern auch, der Vielzahl von Charakteren deutlich unterscheidbare Stimmen zu verleihen. Bei einigen Figuren werden zudem Spezialitäten stimmlich herausgearbeitet, etwa beim Pitbull-Mann, bei dessen Sprache man den Eindruck hat, die Hundewangen schlackern zu hören, oder beim Geisterhändler, dessen Worte aus einer sphärischen Dimension hinüber zu treiben scheinen. In seltenen Fällen werden diese stimmlichen Effekte noch elektronisch angereichert, etwa bei den Wasserweberinnen. Dies trägt nochmals zur Steigerung der Atmosphäre bei.

Überhaupt stellt sich die Technik bei der Produktion ganz in den Dienst der Geschichte. Beginn und Ende der Kapitel werden mit Hintergrundgeräuschen versehen, dramatische Szenen untermalt, wie etwa Seeschlachten mit Kanonendonner. Dies alles bleibt maßvoll, abgestimmt, harmonisch, den Erzählfluss der Geschichte stützend, nicht dominierend.

Auch die Aufmachung kann überzeugen. Die thematisch passenden Titelbilder der Loewe-Buchausgabe wurden übernommen und auch auf die einzelnen CDs gedruckt.

Insgesamt wurde bei den Wellenläufern eine zauberhafte Geschichte perfekt umgesetzt – eine klare Empfehlung!


Verfasser der Rezension:
Bernd Robker